Der Junge und der Reiher (Special)

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  • Wird sich die Geschichte zusammenfügen?
    Hmm...
    Wir müssen sie kürzen.
    Hmm...
    Das war's schon.


    Tokio, im Juli 2016

    *Die dreijährige Produktionszeit dehnte sich aus auf sieben Jahre.





    TITELSONG „SPINNING GLOBE“


    TEXT, MUSIK UND DARBIETUNG VON KENSHI YONEZU

    Der klare Himmel an dem Tag, an dem ich geboren wurde, war so hoch, weit weg und endlos
    Der Tag, an dem ich eine Stimme hörte, die mir leicht auf den Rücken klopfte und mir sagte, ich solle weitergehen

    Gesichter, die ich in den Jahreszeiten traf, die sich manchmal gegenseitig verletzten
    Scheinen durch das Licht, der Schatten dehnt sich aus, während der Himmel sich immer weiter entfernt

    Ich fange den Wind ein und beginne zu laufen, über die Trümmer hinweg
    Am Ende dieser Straße wartet jemand auf mich
    Träume vom Licht, das durchscheint, an jedem Tag der Woche
    Öffne die Tür in diesem Moment, als ob du verborgene Geheimnisse enthüllst
    Ich kann meine Sehnsucht nach mehr nicht zurückhalten, wie die sich drehende Weltkugel

    Der Mensch, den ich geliebt habe, ist an einen Ort gegangen, den keiner kennt
    Mit dem gewohnten Lächeln wie an jedem Tag, immer noch irgendwo weit weg

    Ich beobachte den Regen und beginne zu singen, ungeachtet dessen, ob ich gesehen werde
    Die Straße geht weiter, weil ich mir gewünscht habe, dass sie weitergeht
    Ich träume vom Wiedersehen, für immer und ewig
    Ich packte das Fragment mit festem Griff, damit das Geheimnis bewahrt bleibt
    Ich werde mich bis zum Ende weitersehnen, wie die sich drehende Weltkugel

    Es beginnt alles mit einem unschuldigen Wunsch vor langer Zeit
    Ich trage die Einsamkeit in meinem Herzen, ich biege um die Ecke

    Ich fange den Wind ein und beginne zu laufen, betäubt von den Trümmern
    Am Ende der Straße wartet jemand auf mich
    Der Traum eines Lichts schimmert durch, an jedem Tag der Woche
    Öffne die Tür in diesem Moment, als würde man versteckte Geheimnisse offenbaren
    Die Freude, eine Hand zu halten, das Leid, eine zu verlieren
    Ich kann nicht anders als mir etwas vorzustellen, wie die sich drehende Weltkugel





    HAYAO MIYAZAKI (Drehbuch, Produktion, Regie)


    HAYAO MIYAZAKI, geboren am 5. Januar 1941 in Tokio, genießt längst einen mythischen Status unter den großen Filmemachern der Welt. Er gilt mit seinem Studio Ghibli als japanische Antwort auf Walt Disney, wird verehrt von Größen des westlichen Kinos wie Steven Spielberg und John Lasseter. Er läuft mit seinen Werken regelmäßig auf den großen A-Festivals und konnte 2002 auf der Berlinale, wo er 1998 erstmals mit „Prinzessin Mononoke“ im Wettbewerb vertreten war, für „Chihiros Reise zum Zauberschloss“ den Goldenen Bären gewinnen – und später auch den Oscar für den besten Animationsfilm (weitere Nominierungen erhielt er für „Das wandelnde Schloss“ und „Wie der Wind sich hebt“). Jeder neue Film von Miyazaki-san wird gefeiert als Ausnahme-Event. Kein Wunder, denn nicht nur die Kritik überschlägt sich mit Superlativen, auch an den Kinokassen brechen die Arbeiten regelmäßig Rekorde.

    1963 begann Miyazaki als Trickzeichner bei Toei-Animation, wie viele seiner Kollegen stieß er sich an den kreativen Beschränkungen dieses Systems. Auch deshalb, weil er mehr als reine Kinderstoffe gestalten wollte. Zwischen 1965 und 1968 schuf er gemeinsam mit Isao Takahata und Yasuo Otsuka den ersten japanischen Zeichentrickfilm, der von Künstlern statt von Produzenten konzipiert worden war: „The Great Adventures of Horus, Prince of the Sun“ war allerdings nur ein Kritikererfolg. Nach verschiedenen Arbeiten fürs Fernsehen (u.a. war er beteiligt an legendären Zeichentrickserien „Heidi“ und „Marco“) und Kurzfilmen gelang Miyazaki mit dem Abenteuerfilm „Die Jäger des Cagliostro“ 1979 sein erstes Meisterwerk als Regisseur.

    Den wirklichen Durchbruch erlebte er dann 1984 mit dem Fantasy-Epos „Nausicaä“, das er zunächst als Manga entwickelt hatte. Dieser Erfolg leitete nicht nur einen Boom des japanischen Animationsfilms ein, er war auch der Grundstein für Miyazakis Rolle als Zeichentrick-Mogul. Finanziert durch den Tokuma Shoten Verlag, gründeten er und Isao Takahata das Ghibli Studio. Der Name war Programm: „Ghibli“ ist der Name eines italienischen Aufklärungsflugzeugs, das wiederum nach heißen Wüstenwinden benannt worden war. „Lasst uns einen aufregenden Wind durch die japanische Animationsindustrie blasen“, kündigte der erklärte Flugzeug-Fan Miyazaki bei der Studiogründung an. Der erste Ghibli-Film, „Laputa: The Castle in the Sky“ (1986), sorgte für ähnlich gute Ergebnisse wie „Nausicaä“.

    Schnell spezialisierte sich das Studio auf hochwertige Kinoanimation. Das Prinzip hieß: hohe Kosten, hohes Risiko - und hohe Erträge. „Wenn ein Projekt gefloppt wäre, wäre das ganze Studio untergegangen“, bekannte Miyazaki damals in einem Interview. Doch der Fokus auf Qualität zahlte sich aus. Die Ghibli-Filme „Kikis kleiner Lieferservice“ und „Tränen der Erinnerung – Only Yesterday“ waren 1989 bzw. 1991 erstmals die erfolgreichsten japanischen Filme des Jahres. Miyazakis „Mein Nachbar Totoro“ lieferte 1988 den Anstoß, die fantastischen Kreaturen der Ghibli-Filme im Merchandising auszuwerten. Nach dieser wirtschaftlichen Konsolidierung wurde Studio Ghibli in seiner heutigen Form etabliert: Im Tokioter Vorort Koganei wurde ein 1100 Quadratmeter großer Studiokomplex gebaut. Fortan gab es eine feste Belegschaft und ein Ausbildungsprogramm für Animatoren.

    Mit „Prinzessin Mononoke“, der in Japan 1997 die damalige Rekordsummer von 150 Millionen Dollar einspielen konnte, wurde der Name Hayao Miyazaki nicht zuletzt dank der Aufnahme in den Wettbewerb der Berlinale erstmals über die Grenzen Japans hinaus richtig wahrgenommen. Sein nächster Film ließ ihn dann endgültig zum Superstar werden. „Chihiros Reise ins Zauberland“ spielte bei einem Budget von 19 Mio. Dollar allein in Japan 227 Mio. Dollar ein und war dort der zu diesem Zeitpunkt größte Hit aller Zeiten. Dazu kam der Triumph in Berlin und bei den Oscars. Endgültig wurden Anime als Kunstform anerkannt. Nur zwei Jahre später folgte „Das wandelnde Schloss“, der zwar nicht so viel einspielen konnte wie der Vorgänger, aber dennoch weltweit zum Kassenerfolg avancierte. Bei der Erzählung machte Miyazaki-san keine Zugeständnisse: Der Film thematisiert den Krieg, weil ihn zu dieser Zeit der Irakkrieg sehr beschäftigte.

    Auch die beiden nächsten Titel schlagen hohe Wellen bei der Fangemeinde, wenngleich sie nicht zu den größten Kassenschlagern von Studio Ghibli gehören, vielleicht auch, weil sie zunehmend persönlicher werden und Hayao Miyazaki verstärkt beginnt, eigene Erlebnisse in seiner Kindheit und Jugend zu thematisieren. „Ponyo - Das große Abenteuer am Meer“ (2008) verarbeitet der Filmemacher sein schwieriges Verhältnis zu seinen Söhnen; „Wie der Wind sich hebt“ (2013) ist ein leidenschaftliches Plädoyer für Frieden und Pazifismus. Im Anschluss gab Miyazaki-san offiziell seinen Rücktritt bekannt, er wolle sich künftig mehr um das Ghibli Museum kümmern. DER JUNGE UND DER REIHER straft ihn selbst Lügen: Im Juli 2023 wurde der Film komplett ohne Marketing und Werbung überraschend in den japanischen Kinos gestartet. Als Eröffnungsfilm des Toronto International Film Festivals trat er seinen internationalen Siegeszug an.

    Erzählerisch bestechen Miyazakis Filme nicht nur durch ihren auch Erwachsene begeisternden Fantasiereichtum, sondern auch durch die intelligente Verarbeitung von aktuellen Zeitproblemen wie der Zerstörung des Ökosystems oder Krieg. Von der beschönigenden Weltsicht Disneys setzt er sich bewusst ab. In ökonomischer Hinsicht arbeitet er jedoch mit dem Maus-Konzern zusammen: Disney hält weltweit mit Ausnahme von Asien die Kino- und Videorechte der meisten Ghibli-Filme. Bei „Chihiro“ übernahm Disney zudem zehn Prozent der Produktionsbudgets.

    Auch bei Ghibli wird längst Computertechnologie eingesetzt, die ersten Arbeitsstufen bilden aber weiterhin Handzeichnungen. So ist das Studio eine der letzten großen Hochburgen für die klassische Kinoanimation. Seit den letzten Filmen spielt Miyazaki immer wieder mit dem Gedanken, sich aufs Altenteil zurückzuziehen. Sechsmal hat er bereit seinen Rücktritt erklärt, fünfmal dann aber auch den Rücktritt vom Rücktritt wieder eingeräumt. Zum Glück handelt es sich bei derartigen Ankündigungen längst um ein Ritual.


    „Man muss versuchen zu leben“ von Bernard Génin, Journalist, Dozent, Anime-Spezialist


    Nach der Ausstrahlung des Dokumentarfilms „Never Ending Man“ von Kaku Arakawa, der das Privileg hatte, den Meister des Anime täglich zu begleiten und ihn so zu zeigen, wie „man ihn noch nie gesehen hat“, äußerte Hayao Miyazaki sein Missfallen über den Titel, der seiner Meinung nach bedeutete „Der Mann, der nicht aufhört (zu arbeiten)“. Er hätte vorgezogen: „Der Mann, der nicht aufhören kann“. Damals war er 72 Jahre alt. Heute ist er 82 Jahre alt.

    DER JUNGE UND DER REIHER, an dem Miyazaki sieben Jahre lang gearbeitet hat, wird als sein letzter Film bezeichnet. Sollte er seiner Karriere wirklich einen Schlusspunkt setzen wollen? Wer weiß das schon… „Er hat mir später erzählt“, sagte Kaku Arakawa, „nur der Tod könne ihn aufhalten.“

    Ein Film als Vermächtnis also? Als Summe des Schaffens? Wir sollten bei DER JUNGE UND DER REIHER eher von einem neuen Mosaikstein im Gesamtwerk sprechen, der im Geiste der vorherigen Filme steht und diese teilweise in seine Vision mit einbezieht. Und definitiv ist er keine Moralpredigt, wie es der japanische Titel vielleicht hätte befürchten lassen können („Kimitachi wa Do Ikiruka“ bedeutet wörtlich übersetzt „Wie lebst du?“ und ist auch der Titel des gleichnamigen Romans von Genzaburo Yoshino,). Eine Szene im Film zeigt den jungen Helden, wie er dieses Buch mit einem Zettel seiner Mutter entdeckt, auf dem steht: „Für Mahitos Erziehung“.

    Seit dem historisch-realistischen (mit einigen Träumen durchwobenen) Film „Wie der Wind sich hebt“ (2013), kann man von zwei „Miyazaki-Trends“ sprechen, von denen der zweite überwiegend „fantastische“ Werke umfasst, mit einer Ausnahme, nämlich „Porco Rosso“ (1992), den er immer als den einzigen seiner Filme bezeichnete, der nicht speziell für Kinder konzipiert wurde.

    In DER JUNGE UND DER REIHER existieren diese beiden Richtungen nebeneinander. Der Anfang ist realistisch: Mitten im Krieg verursacht eine Bombardierung einen verheerenden Brand, ein Krankenhaus steht in Flammen. Die Panik der Menschenmenge wird als „animierte Malerei“ behandelt, ein Novum bei Miyazaki, wahrscheinlich um den dramatischen Effekt zu verstärken, vielleicht auch als Verbeugung vor seinem verstorbenen Kollegen Isao Takahata, indem er auf dessen Meisterwerk „Die letzten Glühwürmchen“ (1988) anspielt.

    Was ebenfalls noch nie vorkam: Zum ersten Mal gesteht der in der Öffentlichkeit sehr zurückhaltende Filmemacher, dass der Film ein Quäntchen Autobiografie erzähle. Wie viele Künstler durch Figuren ihrer Filme schimmern, könnte man Miyazaki bei DER JUNGE UND DER REIHER in zwei Figuren entdecken: in dem jungen Helden Mahito, einem Sohn, der verzweifelt nach seiner Mutter sucht, und in dem Großonkel, einem alten Weisen, der sich um die Zukunft der Welt sorgt und nach einem Nachfolger sucht.
    Nach der Einführung des Hauptpersonals – Mahito, sein Vater und seine neue Mutter – lässt Miyazaki ein geheimnisvolles Tier auftreten, einen sprechenden Reiher, der wie das Kaninchen in „Alice im Wunderland“ als Fährmann dient, um den Helden in eine andere Welt zu führen, in der Zeit, Leben und Tod durcheinandergewirbelt werden. Wie in „Das wandelnde Schloss“ (2004) wird sich eine Reihe von Türen nach Belieben zu verschiedenen Universen öffnen und schließen. Man stirbt in dem einen und wird in dem anderen wiedergeboren.

    Das ist ein roter Faden für den Filmemacher, selbst in seinem Alltag: In „10 Jahre mit Hayao Miyazaki“ (die Langfassung von „Never Ending Man“) sieht man ihn in sein leeres Büro gehen und „Hallo“ sagen. Der Kameramann fragt ihn, mit wem er spreche. Er antwortet: „Mit den Wesen, die hier leben. Ich kenne sie nicht, aber sie sind hier.“ Für ihn sind die Götter und die Toten überall. Um Mahitos Suche zu erzählen, greift er auf seine Lieblingstonart zurück, die Tonart der Träume und Fantasien, ja sogar der Albträume.

    Ein Fischer, der an einer Bucht mit Geisterschiffen voller gesichtsloser Wesen vorbeifährt, erklärt zum Beispiel Mahito: „Keiner von ihnen ist real. Die Toten sind in der Überzahl.“

    Über Miyazakis Ausbildung, die Entdeckung seines Zeichentalents und seinen spektakulären Aufstieg in der Branche wurde bereits alles gesagt und geschrieben. Er wurde 1941 geboren, als Amerika nach der Bombardierung von Pearl Harbor durch die japanische Armee in den Krieg eintrat. Seine Familie ist in den Konflikt verwickelt, da sein Vater die Firma Les Avions Miyazaki leitete, die dessen Bruder, Hayaos Onkel, gehörte und die Steuerruder der legendären Zéro-Flugzeuge herstellte, die von 1940 bis 1945 von der kaiserlichen Marine eingesetzt wurden. In seine Leidenschaft für die Luftfahrt mischte sich immer ein Schuldgefühl aufgrund der zerstörerischen Seite dieses Berufs. Erst 2013 griff er das Thema in „Wie der Wind sich hebt“ auf.

    Seine Kindheit wird von einem weiteren Schicksalsschlag gezeichnet: Seine Mutter erkrankte an Tuberkulose und war jahrelang bettlägerig. Sie starb 1983 im Alter von 72 Jahren.

    1963, mit 22 Jahren, begann Miyazaki als Assistent bei Toei-Animation, dem größten Animationsstudio des Landes, und stieg schnell zum Chef-Animator auf. Seine politischen Ansichten brachten ihn auf den Posten des Gewerkschaftssekretärs. Er legte sich mit der Geschäftsleitung an, setzte sich vehement für die Verbesserung der Qualität der Filme ein und kündigte dann 1971, als er die Standardisierung der Arbeit satthatte. Sein treuer Weggefährte Isao Takahata folgte ihm.

    Nach der Mitarbeit an einer Vielzahl von Serien (u.a. „Heidi“, „Zukunftsjunge Conan“) drehte er 1979 seinen ersten Langfilm, „Die Jäger des Cagliostro“. Das darin gezeigte Schloss wurde oft als Hommage an das von Paul Grimault in „La Bergère et le ramoneur“ (1952) gezeichnete Schloss gesehen (der Film wurde nach einer Überarbeitung 1980 unter dem neuen Titel „Der König und der Vogel“ zu einem Klassiker). Miyazaki und Takahata (der in Japan der Übersetzer der Gedichte von Jacques Prévert und der Drehbuchautor von Paul Grimault werden sollte) entdeckten den Film, als er Mitte der Fünfzigerjahre in Japan erschien. Sie schätzten dessen anti-totalitaristische Botschaft, fernab der Hollywood-Zeichentrickfilme.

    Der erste große Wendepunkt in Miyazakis rasant nach oben zeigender Karriere war die Verfilmung der Serie „Nausicaä – Prinzessin aus dem Tal der Winde“ (1984). Der Erfolg dieses Manifests für Pazifismus und Umweltschutz, in dem die junge Heldin einen vom Industrieapparat bedrohten Planeten rettet, begeisterte einen reichen Verleger, Tokuma Shoten, der Miyazaki und Takahata den Bau eines Studios finanzierte, in dem sie von nun an unabhängig und frei kreativ sein konnten.




    Damit begann die Legende des Studios Ghibli…

    Mit diesem neuen Studio hat Miyazaki einen Vertrag über neun Spielfilme unterzeichnet, von denen einige als gesellschaftliche Phänomene angesehen werden. Lange vor der neuen Generation (Satoshi Kon, Mamoru Hosoda usw.) räumte er mit allen ästhetischen Vorurteilen gegenüber der „Japanim“ auf, die damals in Europa vielfach über den kleinen Bildschirm verbreitet wurde - große Augen, sinnlose Gewalt usw. - und wurde zum Symbol einer echten Erneuerung (der Name Ghibli steht für einen warmen Wind, der in der Wüste weht und der von nun an über einen ganzen Berufsstand wehen sollte).

    Triumphe in den Kinos feierte er mit „Mein Nachbar Totoro“ (1988), „Porco Rosso“ (1992), „Kikis kleiner Lieferservice“ (1989), „Prinzessin Mononoke“ (1997) und schließlich „Chihiros Reise ins Zauberland“ (2001), der den Goldenen Bären der Berlinale gewann und den Oscar als bester Animationsfilm. Zwei Jahre später, 2005, wurde Miyazaki in Venedig mit einem Goldenen Löwen für sein Lebenswerk ausgezeichnet.

    Und wie rote Fäden ziehen sich Themen durch seine Werke: keine manichäischen Weltentwürfe, dafür Plädoyers für Feminismus, Pazifismus, Umweltschutz. Man denke nur an die Szene aus „Chihiros Reise ins Zauberland“ mit dem Flussgott, der sich von einer Menge fauligem Müll befreit, den die Menschen weggeworfen haben. Der gleiche Müll findet sich auch in dem Netz, in dem die kleine Ponyo zu Beginn von „Ponyo: Das große Abenteuer am Meer“ versinkt.

    Das Bild der Mutter – deren Suche im Mittelpunkt von DER JUNGE UND DER REIHER steht - taucht in verschiedenen Variationen auf, karikiert als herrisch in „Das Schloss im Himmel“ (1986) oder sanftmütig in „Mein Nachbar Totoro“. In „10 Jahre mit Hayao Miyazaki“ gibt es eine berührende Szene: Sie zeigt den Filmemacher, wie er mit Tränen in den Augen an einer Szene in „Ponyo“ arbeitet, in der der Junge Sosuke von einer der alten Damen im Altersheim umarmt wird, weil sie ihn an seine Mutter erinnert, die durch ihre Krankheit daran gehindert wurde, ihre Kinder zu umarmen. Diese alten Damen tauchen auch in DER JUNGE UND DER REIHER wieder auf, und zwar sieben an der Zahl (eine Anspielung auf die „sieben Zwerge“?).

    Eigentlich erzählen alle Filme von Hayao Miyazaki von einer sich ankündigenden Katastrophe, die von einem Helden mit reinem Herzen abgewendet wird. In „Prinzessin Mononoke“ beruhigt Ashitaka einen schwelenden Konflikt zwischen Menschen, Tieren und Naturgöttern. Manchmal holt die Realität die Fiktion auf tragische Weise ein.
    2006, zwei Jahre nach dem Tsunami, der die Küsten des Indischen Ozeans verwüstete, begann Miyazaki mit „Ponyo: Das große Abenteuer am Meer“, in dem die kleine Heldin ihre magischen Kräfte aufgibt, um die Menschen zu retten, indem sie einen gefährlichen Riss schließt, den sie zwischen ihrer Welt und der Unterwasserwelt geöffnet hatte.

    2011 folgte auf ein weiteres Erdbeben, diesmal in Japan, ein Tsunami, der die Nuklearkatastrophe von Fukushima auslöste und 18.000 Menschenleben forderte. Miyazaki reiste an den Ort des Geschehens und rief dann sein Team zusammen, um ein neues Projekt anzukündigen. In „10 Jahre mit Hayao Miyazaki“ sagt er: „Werden wir wieder die Geschichte eines kleinen Mädchens erzählen? Nein. ‚Wie der Wind sich hebt‘ wird die Geschichte eines Windes erzählen, der sehr stark über unruhige Zeiten weht. Wie kann man in einer solchen Situation überleben? Unser Film soll eine Antwort auf die Ungewissheit unserer Zeit sein.“

    DER JUNGE UND DER REIHER spielt zwar vor dem Hintergrund des Pazifikkriegs, man sieht, wie die Flugzeugcockpits aus der Fabrik des Vaters kommen, der sich an den Kriegsanstrengungen beteiligt. Aber es ist offensichtlich, dass Miyazaki an unsere Zeit denkt, an die aktuellen beängstigenden Unsicherheiten hinsichtlich eines friedlichen Miteinanders. In Paul Valerys „Cimetière marin“ heißt es „Le vent se lève… il faut tenter de vivre“, was mehrmals im Film „Wie der Wind sich hebt“ auf Französisch ausgesprochen wird.

    Wenn es eine Botschaft gibt, dann ist es diese: „Versuchen zu leben“, egal unter welchen Umständen, wie Mahito, den seine Verzweiflung zunächst dazu getrieben hat, sich selbst zu verletzen. Sie wird uns von einem besorgten philosophischen Filmemacher übermittelt, der dem Großonkel im Film ähnelt und unter einem magischen Monolithen mit geometrisch geformten Steinen jongliert, die, je nach Zusammenstellung, die Welt „zu einem Schrecknis oder einem Wunder“ machen können. Wie Miyazaki, der schon immer zwischen seiner Verzweiflung und seinem Glauben an die Menschheit hin- und hergerissen war.


    Infos
    Originaltitel:
    Kimitachi wa dô ikiru ka
    Land:
    Japan
    Jahr:
    2023
    Studio/Verleih:
    Wild Bunch Germany
    Regie:
    Hayao Miyazaki
    Produzent(en):
    Toshio Suzuki
    Drehbuch:
    Hayao Miyazaki
    Kamera:
    Atsushi Okui
    Musik:
    Joe Hisaishi
    Genre:
    Fantasy, Drama, Anime
    Inhalt:
    Nachdem seine Mutter bei einem Brand im Krankenhaus während des Zweiten Weltkriegs umgekommen ist, muss der elfjährige Mahito Tokio verlassen. Er zieht zu seinem Vater und dessen neuer Frau in ein altes Herrenhaus, das sich auf einem riesigen Landgut befindet. Isoliert von der Welt, beginnt Mahito, die verzauberten Landschaften, die sein neues Zuhause umgeben, zu erforschen und begegnet einem mysteriösen Graureiher, der hartnäckig an seiner Seite bleibt. Nach und nach wird der Reiher zu seinem Führer und hilft ihm, die Welt um ihn herum besser zu verstehen und die Geheimnisse des Lebens zu lüften.
    Start (DE):
    04.01.2024
    Start (USA):
    22.11.2023
    Laufzeit:
    124
    FSK:
    ab 12 Jahren

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