Übersicht
Einleitung
Anime-Magier Hayao Miyazaki genießt einen bemerkenswert guten Ruf in der Filmwelt. Dieser kommt aber nicht von ungefähr. Schließlich ist er nicht nur Mitbegründer des renommierten Studio Ghibli, das wie kein anderes Studio auf der Welt durchweg Filme auf allerhöchstem Niveau produziert, sondern erweckte er persönlich Genre-Meilensteine wie Prinzessin Mononoke, Chihiros Reise ins Zauberland, Mein Nachbar Totoro, Kikis kleiner Lieferservice, Nausicaä oder Das wandelnde Schloß zum Leben. Nachdem er selbst den 2013 erschienenen Anime Wie der Wind sich hebt als seinen letzten Film ankündigte, war das eine Hiobsbotschaft für die Anime- und Filmwelt. Doch bereits 2017 legte er mit einen Kurzfilm nach, worauf nun zur Freude etlicher Fans mit Der Junge und der Reiher auch noch einmal ein Langfilm folgte. Denn auch wenn das Studio Ghibli ebenfalls zahlreiche herausragende Animes anderer Filmemacher herausbrachte, man denke nur an Die letzten Glühwürmchen, Der Mohnblumenberg oder Tränen der Erinnerung, haben doch die Werke von Hayao Miyazaki stets einen ganz besonderen Stellenwert.
Im Zentrum von Der Junge und der Reiher steht der Junge Mahito, der im Japan der Kriegszeit der frühen 40er lebt. Nachdem seine Mutter bei einem Luftangriff im zweiten Weltkrieg umgekommen ist, muss der elfjährige Mahito Tokio verlassen. Er zieht mit seinem Vater zu dessen neuer Frau in ein altes Herrenhaus, das sich auf einem riesigen Landgut befindet. Isoliert von der Welt, beginnt Mahito, die verzauberten Landschaften, die sein neues Zuhause umgeben, zu erforschen und begegnet einem mysteriösen Graureiher, der hartnäckig an seiner Seite bleibt. Durch ihn lernt Mahito eine ganz neue Sicht auf das Leben und alles, was es ausmacht, kennen.
Laut eigener Aussage verarbeitete Autor und Regisseur Miyazaki zahlreiche persönliche Erlebnisse in Der Junge und der Reiher.
© 2023 Wild Bunch Germany
Kritik
In Der Junge und der Reiher hat Autor und Regisseur Hayao Miyazaki mehr persönliche Erlebnisse einfließen lassen, als in jedem seiner anderen Werke. Wenig überraschend ist sein Film so auch der wahrscheinlich komplexeste seiner langjährigen Laufbahn geworden. Die Reichhaltigkeit an Themen, die hier aufgearbeitet werden, ist nur schwer zu greifen. Doch fühlt sich der Anime trotzdem niemals wirklich überladen an. Denn Miyazaki begegnet großen Themen wie das Erwachsenwerden, Verlust, Tod, politischer Sozialkritik oder der Entscheidung darüber, wie man sein Leben führen möchte, auf einer emotionalen, aber nie sentimentalen, sowie höchst phantastischen Weise, womit er ungemein viel Interpretationsfreiraum schafft. So bleibt das Werk stets persönlich, stößt Dinge an, die beim Zuschauer subjektive Erfahrungen berühren, sodass jeder seine eigene Sicht auf die Dinge in die Geschichte legen kann. Die richtige Interpretation des Films wird es wahrscheinlich nicht geben und Miyazaki scheint auch zu keinem Zeitpunkt darauf zu zielen. Viel mehr soll das Gesehene einfach bei jedem einzelnen etwas geschehen lassen, dass jeder mit sich selbst ausmachen soll. Das erzielt der Filmemacher damit, dass er bei seiner Erzählung keine Rücksicht auf sein Publikum nimmt, sondern viel mehr sich einzig darauf konzentriert, seine persönliche Gefühlswelt auf metaphorische Art und Weise aufzuarbeiten. Denn mit den Leitthemen kam jeder von uns schon einmal in Berührung und legt so seine eigene emotionalen Erfahrungen in die von Miyazaki erschaffene Welt.
Das klingt alles ungemein schwer zu greifen, ist es auch auf die ein oder andere Weise, und dennoch kann man sich dem Gesehenen nicht entziehen und wird unweigerlich in das turbulente Abenteuer mitgerissen, sodass man am Ende sich gar nicht so sicher ist, was man eigentlich gesehen hat. Aber in einem Punkt ist man sich dann um so sicherer. Dass es ungemein schön war.
Und daran hat die große Phantasie von Miyazaki selbstverständlich wieder einen enormen Anteil. Die Welt, in die seine Hauptfigur Mahito gezogen wird, sprudelt nur so vor wundervollen Bildern, geheimnisvollen Kreaturen, teils verstörend erschütternden Augenblicken und niedlichen Wesen. Der Ideenreichtum des mittlerweile über Achtzigjährigen scheint weiterhin kein Ende nehmen zu wollen. Und sein Feingefühl für die wichtigen Dinge im Leben ist trotz der teils frustrierenden Realität, in der wir leben, zu keinem Augenblick abhanden gekommen. So ist auch Der Junge und der Reiher ein Mutmacher geworden, der einen trotz der tragischen und beängstigenden Themen positiv gestimmt wieder in die echte Welt hinauslässt.
Zu dem mittlerweile unverkennbaren, ungemein liebevollen Zeichenstil des Anime-Atlmeisters gesellt sich, wie gewohnt, ein magischer Score von Miyazakis langjährigen musikalischen Partner Joe Hisaishi, der wieder einige wunderschöne Melodien gezaubert hat, die die Bilder des Regisseurs nur allzu perfekt untermalen.
Und doch stolpert man hin und wieder über das ein oder andere, was dann nicht gänzlich geglückt ist. So ist beispielsweise Miyazakis Interpretation von Sittichen zu Beginn noch sehr amüsant und gleichzeitig überraschend beängstigend, doch wird dieses Element leider etwas zu sehr ausgetreten, sodass diese Kreaturen bald schon einen etwas auf die Nerven gehen. Darüber hinaus vermisst man ein (oder mehrere) Wesen, an dem man sich nicht sattsehen kann, welches man in Miyazakis phantasievollen Werken nur allzu lieben gelernt hat. Vielleicht fällt der letzte Punkt auch nur ins Gewicht, wenn man mit dieser Erwartungshaltung an den Film herantritt. Und doch war es stets ein Element, was die phantasievollen Filme des Anime-Großmeisters ausgemacht haben.
© 2023 Wild Bunch Germany
Aber so richtig ins Gewicht fallen diese Elemente nicht. Der ein oder andere Zuschauer wird sich zwar etwas schwer tun, sich auf Der Junge und der Reiher einzulassen. Wenn man dann seinen Verstand aber einfach mal loslassen kann und sich von seinem Herzen leiten lässt, wird man zweifelsohne auf eine Reise mitgenommen, die man so schnell nicht wieder vergisst - und auch nicht vergessen will. Denn um Verstehen geht es bei diesem Film zu keinem Zeitpunkt.
Fazit
Hayao Miyazaki ist es abermals gelungen, einen wundervollen Film zu kreieren, der zwar das bisher am schwersten zu greifende Werk seiner Karriere ist, aber gleichzeitig auch sein bestimmt faszinierendstes. So bewegt sich der Filmemacher von der Tonalität eher an Werken wie Prinzessin Mononoke oder Nausicaä entlang als an seinen jüngsten eher familienfreundlichen Titeln. Der Junge und der Reiher ist damit keine leichte Kost, zauberhaft schön ist er dennoch. Und am Ende ist man sich sicher, dass man abermals Zeuge von etwas ganz Besonderem geworden ist, wenn man auch nicht genau weiß, was es eigentlich genau war.
8/10
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